Beruflich war ich in dieser Woche drei Tage auf der Messe Pflege&Reha in Stuttgart, wo ich gemeinsam mit Cora Burger einen Stand hatte zum Thema Nonprofits und Web 2.0.
Wir hatten u.a. die Möglichkeit, hier mit vielen Pflegekräften ins Gespräch zu kommen. Was berichten die ‘front line worker’ von ihrem Alltag? Grundsätzlich, dass hinten und vorne die Zeit in den Einrichtungen fehlt und es schwierig ist, mehr als eine Satt-und Sauber-Pflege zu leisten. Dass das Einkommen niedrig ist und der berufliche Status von Pflegern sehr ambivalent (einerseits schätzt jeder die Pflegenden, selbst machen wollen den Job aber nur wenige). Die Heime haben wohl Probleme, gute Fachkräfte zu bekommen. Überhaupt ärgern sich viele über den Einsatz von so vielen Ungelernten oder Angelernten in der Pflege. Das entwertet ihrer Ansicht nach ihren Beruf. Schwierig ist auch die Abgrenzung zum Ehrenamt, das zum Teil als Bedrohung des Berufstandes gesehen wird. Obwohl man meines Erachtens das Profil des Berufsstandes durch die Zusammenarbeit mit dem Ehrenamt noch aufwerten könnte. Denn die Pflegenden würden dann zu einer Art ‘Gemeinwesenmanager’, weil sie durch die Einbindung der freiwilligen Helfer wichtige Integrations- und Fortbildungsarbeit erbringen. Das müsste natürlich honoriert werden, denn dem Berufsstand wird schon so genügend aufgebürdet.
Der Dachverband der baden-württembergischen Pflegeberufsverbände, der uns gegenüber einen Stand hatte, sieht die Zukunft des Pflegeberufes positiv: die steigende Nachfrage nach Pflegekräften angesichts der Überalterung der Gesellschaft werde zu steigenden Einkommen und steigendem Status in dem Beruf führen. Ich hoffe, die Verbandsvertreter behalten hier recht. Aber ich denke, dass in Zukunft ein breites Netzwerk an Ehrenamtlichen unerlässlich sein wird für die Einrichtungen und die Kooperation zwischen Fachkräften und Laien sich weiterentwickeln wird und muss.
Was Web 2.0 bzw. die Möglichkeiten des Internets für gemeinnützige Organisationen angeht, so sind die Heimträger hier noch Lichtjahre vom Thema entfernt. Manche sehen aber die Notwendigkeit, in diese Richtung zu denken. Wobei ich mich frage, ob sie den mentalen und kulturellen Wandel, der hinter den interaktiven Anwendungen steht, auch in den Blick fassen. Dieser läuft der hierarchischen Steuerung diametral entgegen, welche, so das Feedback der Pflegekräfte, den stationären Sektor noch dominiert.
Nachtrag: mit der oben durchgestrichenen Formulierung bin ich über das Ziel hinausgeschossen und ernte dafür Vorwürfe. Also: ganz so schwarz ist die Situation nicht. Die Wortwahl geht auf meine Ungeduld zurück, mit der ich den Nonprofit-Sektor begleite, den ich sehr schätze und von dem ich mir mehr Enthusiasmus gegenüber dem Social Web wünschen würde. Wenn man jemanden sympathisch findet, wie ich gemeinnützige Organisationen, bleibt man nicht gleichgültig. Die ganze Leidenschaft steckt dann in der Überzeugungsarbeit. Und manchmal bricht die Frustration durch, leider.
Hierarchisch gesteuerte Unternehmen schaffen vielleicht den Weg in das neue Zeitalter gar nicht. Was würde das für die Pflege bedeuten? Ältere Menschen, die im Web 2.0 fit sind, könnten sich vernetzen und sich zu Wohngemeinschaften zusammen schließen, die wiederum über das Web 2.0 sich die unterstützende Pflege selbst organisieren.
Brauchen wir denn in Zukunft diese zentralisierten Alten- und Pflegeheime noch? Oder stammt nicht auch ihr Konstruktionsprinzip aus dem Industriezeitalter, wo eine “Bearbeitung” (wie am Fließband) eben rationell und billig war.
Eine Pflegefachkraft hat bis heute praktisch kaum eine Alternative, als bei einer großen Pflegeeinrichtung angestellt zu arbeiten. Mit dem Internet bzw. dem Web 2.0 wird das aber anders: Jetzt können sich Angebot und Nachfrage doch ganz anders organisieren und es wird vorstellbar, dass gute Pflegekräfte auf selbständiger Basis arbeiten, weil sie direkt von ihren Kunden (bzw. deren Angehörigen) engagiert werden.
Das sollte die Einkommensperspektiven dieser wichtigen Personengruppe verbessern helfen und ihr gesellschaftliches Ansehen weiter stärken.
Als Mitausstellerin auf dem Stand von Frau Dr. Reiser habe ich die Situation etwas anders erfahren. Mit den Betreuern der Nachbarstände waren wir uns einig, dass relativ wenige Personen mit Entscheidungsgewalt anzutreffen waren. Diese empfand ich jedoch als relativ aufgeschlossen. Sogar die Aussage “Sie rennen bei mir offene Türen ein” war zu hören. Ähnlich positiv verliefen die Gespräche mit Lehrkräften, die in der Aus- und Weiterbildung für Pflegekräfte und Pflegedienstleitungen tätig sind.
Von den Pflegekräften kam allerdings auch in meiner Wahrnehmung mehrheitlich die Meinung, sie seien nur ein kleines Licht, würden sich nur in ihrem Bereich auskennen und hätten sowieso nichts zu sagen. Doch selbst hier gab es andere Stimmen, die die Idee interessant fanden.
Enttäuscht war ich von den Pflegeschülern, die trotz ihres fast generell jugendlichen Alters praktisch überhaupt nicht auf unser Thema “Web 2.0 für NPOs” ansprangen.
@Frau Burger, ich habe meinen Defätismus schon bedauert, siehe den Nachtrag oben.
@Herr Schwenk, danke für Ihren Kommentar. Die Selbstorganisation der Pflege durch webkundige Senioren, – das ist eine gute Idee, an die ich noch nicht gedacht habe. Dazu müssten die Senioren gar nicht in einer Wohngemeinschaft wohnen, sondern sie könnten als online-Community die Pflege für sich organisieren, die Gesünderen könnten das für die Vollpflegebedürftigen und im Zweifel Dementen mit übernehmen.
Manchmal bin ich zu sehr auf die institutionelle Perspektive fixiert und verliere die Selbstorganisation der Verbraucher aus dem Auge, was sicherlich ein mächtiger Trend wird.
@Frau Reiser: Vielen Dank für den Nachtrag.
Angesichts der Tatsache, dass die gemeinnützigen Einrichtungen mehr oder weniger stark an anderen Fronten zu kämpfen haben, ist es vielleicht nachvollziehbar, dass sie sich nicht alle sofort jubelnd auf neue, möglicherweise weniger vertraute Möglichkeiten stürzen, selbst wenn sie den Bedarf erkennen.
Ich denke, die Situation ist im Kunst- und Kulturbereich nicht so ganz anders und insofern kann ich den Frust verstehen, wenn man sieht, was möglich wäre und wie weit die Realität noch davon entfernt ist.
Auf der anderen Seite: was sollen Pflegeeinrichtungen denn machen? Sie stehen unter enormem Druck und dann kommt wer und sagt ihnen, dass sie endlich das Web 2.0 nutzen sollen.
Nur warum sollen sie das? Ich bin da auch ziemlich eingefahren, weil ich nicht verstehen konnte, warum die Web 2.0-Tools nicht oder kaum genutzt werden. Dann habe ich die Sache umgedreht und bei einzelnen Institutionen immer genau hingeschaut, was die im Internet machen.
Viele Einrichtungen haben z.B. keinen Überblick, ob und wo sie im Internet erwähnt werden. Also habe ich Ihnen Google Alerts erklärt und nachdem die Vorteile offensichtlich sind, wird das auch genutzt.
Nächstes Beispiel Bookmarks: Wir alle wissen, wie das mit den Favoriten in unserem Webbrowser ist. Das Ordnersystem ist viel zu statisch und nicht flexibel, außerdem ist bei spätestens 100 Favoriten Schluss und schaut in die Ordner nie wieder rein. Mit Social Bookmarks funktioniert das viel besser und außerdem kommt der Vorteil dazu, dass man auch die Suchergebnisse anderer mitnutzen kann.
Am Ende nutzt eine Einrichtung das Web 2.0 und weiß es gar nicht. 😉
Die Herausforderung: ich werde schnell ungeduldig, wenn Organisationen das Internet nicht nutzen wollen. Nur, wenn jemand nicht will, dann will er nicht. Und das kann manchmal ganz schön hart sein. 😉