Alle Artikel von Brigitte Reiser

Situation in der Pflege – Reaktionen von der Basis

Beruflich war ich in dieser Woche drei Tage auf der Messe Pflege&Reha in Stuttgart, wo ich gemeinsam mit Cora Burger einen Stand hatte zum Thema Nonprofits und Web 2.0.

Wir hatten u.a. die Möglichkeit, hier mit vielen Pflegekräften ins Gespräch zu kommen. Was berichten die ‘front line worker’ von ihrem Alltag? Grundsätzlich, dass hinten und vorne die Zeit in den Einrichtungen fehlt und es schwierig ist, mehr als eine Satt-und Sauber-Pflege zu leisten. Dass das Einkommen niedrig ist und der berufliche Status von Pflegern sehr ambivalent (einerseits schätzt jeder die Pflegenden, selbst machen wollen den Job aber nur wenige). Die Heime haben wohl Probleme, gute Fachkräfte zu bekommen. Überhaupt ärgern sich viele über den Einsatz von so vielen Ungelernten oder Angelernten in der Pflege. Das entwertet ihrer Ansicht nach ihren Beruf. Schwierig ist auch die Abgrenzung zum Ehrenamt, das zum Teil als Bedrohung des Berufstandes gesehen wird. Obwohl man meines Erachtens das Profil des Berufsstandes durch die Zusammenarbeit mit dem Ehrenamt noch aufwerten könnte. Denn die Pflegenden würden dann zu einer Art ‘Gemeinwesenmanager’, weil sie durch die Einbindung der freiwilligen Helfer wichtige Integrations- und Fortbildungsarbeit erbringen. Das müsste natürlich honoriert werden, denn dem Berufsstand wird schon so genügend aufgebürdet.

Der Dachverband der baden-württembergischen Pflegeberufsverbände, der uns gegenüber einen Stand hatte, sieht die Zukunft des Pflegeberufes positiv: die steigende Nachfrage nach Pflegekräften angesichts der Überalterung der Gesellschaft werde zu steigenden Einkommen und steigendem Status in dem Beruf führen. Ich hoffe, die Verbandsvertreter behalten hier recht. Aber ich denke, dass in Zukunft ein breites Netzwerk an Ehrenamtlichen unerlässlich sein wird für die Einrichtungen und die Kooperation zwischen Fachkräften und Laien sich weiterentwickeln wird und muss.

Was Web 2.0 bzw. die Möglichkeiten des Internets für gemeinnützige Organisationen angeht, so sind die Heimträger hier noch Lichtjahre vom Thema entfernt. Manche sehen aber die Notwendigkeit, in diese Richtung zu denken. Wobei ich mich frage, ob sie den mentalen und kulturellen Wandel, der hinter den interaktiven Anwendungen steht, auch in den Blick fassen. Dieser läuft der hierarchischen Steuerung diametral entgegen, welche, so das Feedback der Pflegekräfte, den stationären Sektor noch dominiert.

Nachtrag: mit der oben durchgestrichenen Formulierung bin ich über das Ziel hinausgeschossen und ernte dafür Vorwürfe. Also: ganz so schwarz ist die Situation nicht. Die Wortwahl geht auf meine Ungeduld zurück, mit der ich den Nonprofit-Sektor begleite, den ich sehr schätze und von dem ich mir mehr Enthusiasmus gegenüber dem Social Web wünschen würde. Wenn man jemanden sympathisch findet, wie ich gemeinnützige Organisationen, bleibt man nicht gleichgültig. Die ganze Leidenschaft steckt dann in der Überzeugungsarbeit. Und manchmal bricht die Frustration durch, leider.

Links für Nonprofits

Zum Thema Fundraising:

Wie wichtig es für Nonprofits sein muss, die jüngere Generation als Spender zu gewinnen, zeigt ein Artikel des britischen Guardian, der sich mit der online Spenden-Plattform Justgiving.com befasst. Auf Justgiving gibt es mehr als 300.000 Seiten, über die Privatleute Spenden für soziale Zwecke sammeln und mehr als 3000 registrierte Nonprofits. Über Justgiving wurden seit der Plattform-Gründung im Jahr 2001 250 Millionen Pfund für soziale Zwecke eingesammelt. Die Plattform ist in Großbritannien so erfolgreich, weil sie es geschafft hat, junge Menschen bzw. die Internet-Generation anzusprechen. Diese will nicht mit Formularen belästigt werden, sondern auch das Spenden online erledigen und in ihre Selbstdarstellung auf Social Community-Seiten integrieren. Justgiving “is bringing giving to the public in an easy and enjoyable way that makes it part of their lifestyle.” Hierzulande gibt es zwischenzeitlich auch diverse Plattformen, die das Spenden “easy and enjoyable” machen wollen, aber die großen Wohlfahrtsverbände haben die Zeichen der Zeit noch nicht richtig erkannt und sind zu selten auf solchen Plattformen vertreten.

zum Thema Marketing:

Im Wissenschafts-Blog Commercial Communities findet sich ein interessanter Beitrag darüber, wie sich das Marketing in Zeiten der Internetökonomie verändert. Aufgrund der Machtverschiebung zugunsten der Konsumenten durch das Internet muss das Marketing weg von seiner traditionellen Kontroll-Ideologie und hin zu einem Dialog-bzw. Relationship-Marketing.

Konsumenten haben durch das Internet die Möglichkeit Produkte und Preise (weltweit) zu vergleichen und ihre Meinung über das Produkt/den Preis/das Unternehmen zu veröffentlichen, ohne dass dies vom Unternehmen kontrolliert werden könnte. Es ist also besser, den Kontrollzwang gegenüber der Umwelt abzulegen und mehr auf Dialog und Verhandlungen zu setzen.

Auch Nonprofits im Sozialsektor müssen sich stärker nach außen öffnen und dem Wunsch der Stakeholder nach Mitwirkung und Mitgestaltung Rechnung tragen. Vielleicht glauben soziale Organisationen, diesen Zeitpunkt noch ein Stück in die Zukunft verschieben zu können, weil Kunden im Sozialsektor nicht so flexibel reagieren können wie Kunden in anderen Bereichen und die Nachfrager im Sozialsektor stärker an das örtliche Angebot gebunden sind. Aber auch hier verändern sich die Dinge: die Konkurrenz vor Ort nimmt zu und der einzelne hat nun häufiger die Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Anbietern zu wählen.

Immerhin gibt es ein paar Verbände, die die Herausforderungen der Online-Welt annehmen. Wie die Internet-Strategien von zwei großen gemeinnützigen Organisationen aussehen, der Aktion Mensch mit der Seite dieGesellschafter.de und Greenpeace Deutschland, konnte man auf der re:publica ‘o8 erfahren, dem Bloggertreffen in Berlin. Das Weblog Alles, was gerecht ist berichtet über die Statements der Vertreter von Greenpeace und Aktion Mensch und liefert die Links für die Podcasts, um sich die Podiumsdiskussion anzuhören.

Best Practice IV: Internetradio vom Paritätischen Wohlfahrtsverband

In der Regel wird in den Medien über die Empfänger von Sozialleistungen berichtet. Ganz anders funktioniert das Projekt s-pod des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Baden-Württemberg. Hier kommen die Betroffenen im Rahmen von Podcasts selbst zu Wort. Sie berichten über ihre Situation oder sind als Reporter unterwegs und informieren über die Problemlagen anderer Gruppen. Alle, die am Projekt beteiligt sind, haben eine kostenlose Internetradio-Schulung erhalten und sind in der Lage, die Podcasts selbst zu erstellen. Das Ergebnis sind interessante und ungewöhnliche Hörerlebnisse.

Wer wissen will, wie Obdachlose, Blinde, psychisch Kranke usw. ihre Situation sehen (und nicht andere ihre Lage bewerten), der kann hier Entdeckungen machen. Das Projekt ist eine Form des Empowerments der Klientel von Sozialeinrichtungen. Und es ist dem Paritätischen Wohlfahrtsverband hoch anzurechnen, dass er so unkonventionelle Wege geht.

Die Podcasts kann man bei SWEF (Social Web Focus), dem Radioportal für Soziales abhören, das sich auf der Internetseite des Paritätischen in Baden-Württemberg befindet.
Hier gibt es unterschiedliche Kanäle, den Kanal für Selbsthilfe, den Kanal für freiwilliges Engagement usw.

Insgesamt ist das Projekt s-pod ein gutes Beispiel dafür, wie Nonprofit-Organisationen das Internet nutzen können. Jede andere Einrichtung könnte mit Hilfe von Podcasts ihr Profil schärfen oder ihren Kunden eine Möglichkeit zur Artikulation geben. Ich persönlich warte auf die ersten Podcasts aus dem Altenheim und darauf, dass auch alte Menschen endlich ihren Platz und eine Stimme im Netz erhalten.