Kategorie-Archiv: Digitalisierung

Ethische Bewertung von Technologien (Teil 3) – der Ethics Canvas

Im letzten Blogartikel habe ich die MEESTAR-Methode  zur ethischen Evaluation von Technologien von Karsten Weber (2019) vorgestellt. In dem Aufsatz von Weber (S. 431-444) wird auch der Ethics Canvas von Reijers/Lewis u.a. des ADAPT Centre/Dublin als Tool erwähnt. Der Ethics Canvas basiert auf dem bekannten Business Model Canvas.

Der Ethics Canvas ermöglicht ein partizipatives und diskursives Brainstorming der ethischen Folgen von Technologien, die im Rahmen von Forschung und Innovation entstehen. Das nicht-kommerzielle Tool eignet sich speziell für Lehrende, Forschende, Unternehmen und politische Entscheidungsträger, – die Zivilgesellschaft wird hier nicht explizit aufgelistet. Man kann den Ethics Canvas ausdrucken und gemeinschaftlich ausfüllen oder online bearbeiten, speichern und teilen. Dafür haben die Entwickler des Canvas eine Webseite samt Handbuch erstellt.

Die zentralen Fragen , die der Ethics Canvas stellt, lauten:

  • Welche Personen und Gruppen sind von der Technologie bzw. dem Produkt oder Service betroffen?
  • Von welchen möglichen ethischen Folgen sind diese Personen und Gruppen betroffen?
  • Wie kann man diese ethischen Probleme lösen?

Berücksichtigt wird auch der problematische Ressourcenbedarf eines Produkts oder Dienstes (Energie, Daten usw.), als auch mögliche Produktfehler und -schwächen.

CC BY-SA 3.0 ADAPT Centre/Trinity College Dublin/DCU 2017

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Autoren des Ethics Canvas gehen davon aus, dass man ihn in rund 1,5 Stunden gemeinschaftlich ausfüllen kann. Der inhaltliche Aufbau des Canvas beruht auf wissenschaftlichen Ansätzen aus der Technikforschung und Philosophie. Wichtig ist den Autoren, dass Technik nicht deterministisch gedacht wird, sondern Menschen mit der Technik interagieren und sich diese aneignen. Deshalb wird im Ethics Canvas so viel Wert auf Verhalten und Beziehungen gelegt.

Im Unterschied zu MEESTAR ist der Ethics Canvas ein allgemeineres Brainstorming- und Analyse-Tool, das sich nicht mit der konkreten Risikoabschätzung von Technologien befasst. Wie MEESTAR beruht der Ethics Canvas auf dem gemeinsamen Austausch der Stakeholder. Unterschiedliche Perspektiven und Interessen werden sichtbar. Aber auch hier gibt es  – wie bei MEESTAR – keine Lösung für Wert- und Interessenkonflikte, – außer Kompromisse, die in der Diskussion gefunden werden müssen und bei denen sich Machtverhältnisse negativ auswirken können.

Was ich beim Ethics Canvas vermisse, ist die Raumkategorie bzw. die Frage, wie sich eine Technologie auf die Raumbildung  und -gestaltung auswirkt, – ein ganz wichtiges Thema im Hinblick auf Sozialräume bzw. die Smart City-Diskussion.

Was MEESTAR und Ethics Canvas beide nicht bieten, sind Alternativen zu den behandelten Technologien. Man hat nur die Möglichkeit, sich mit einem bestimmten technischen Produkt zu befassen und keine Chance,  über die Sinnhaftigkeit des gesamten Projekts und dessen Annahmen und Ziele zu sprechen. Dieses Denken in Alternativen wird dagegen von Szenario-Methoden gefördert. Hier können Teilnehmer*innen die Frage diskutieren, welche Zukunft und welche Technologien sie sich aus normativer Perspektive wünschen. Mehr zu Szenario-Methoden im nächsten Blog-Artikel.

Datennutzung und Algorithmen human und werteorientiert gestalten

Die Datenethikkommission der Bundesregierung hat Ende Oktober 2019 ihren Abschlussbericht vorgelegt, der in einer Lang- und Kurzfassung zum freien Download zur Verfügung steht. Die Ergebnisse sind auch für Nonprofits von Bedeutung, da sie

  • als Sozialunternehmen selbst Daten generieren, verarbeiten und nutzen, u.a. von pflege- und schutzbedürftigen Menschen und Mitarbeiter*innen
  • unter Umständen selbst an automatisierten Assistenzsystemen beteiligen sind, die Algorithmen einsetzen, oder als Kooperationspartner der Leistungsverwaltung mit den Auswirkungen von Algorithmen bzw. automatisierten Entscheidungen befasst sind
  • als gesellschaftliche Akteure auf die humane Ausgestaltung der Digitalisierung Einfluss nehmen wollen
  • als lokale Akteure mit der Digitalisierung von Sozialräumen und Infrastrukturen konfrontiert sind.

Die Datenethikkommission (DEK) legt ihrem Gutachten die folgenden Leitgedanken zugrunde:

  • menschenzentrierte und werteorientierte Gestaltung von Technologie
  • Förderung digitaler Kompetenzen und kritischer Reflexion in der digitalen Welt
  • Stärkung des Schutzes von persönlicher Freiheit, Selbstbestimmung und Integrität
  • Förderung verantwortungsvoller und gemeinwohlverträglicher Datennutzungen
  • Risikoadaptierte Regulierung und wirksame Kontrolle algorithmischer Systeme
  • Wahrung und Förderung von Demokratie und gesellschaftlichem Zusammenhalt
  • Ausrichtung digitaler Strategien an Zielen der Nachhaltigkeit
  • Stärkung der digitalen Souveränität Deutschlands und Europas

(DEK Kurzfassung, S. 5). Handlungsmaßstäbe für die Ausgestaltung digitaler Technologien sollen Werte und Rechte sein, die in unserer Verfassung und der europäischen Charta der Grundrechte festgelegt sind: die Würde des Menschen, Selbstbestimmung, Privatheit, Sicherheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Solidarität sowie Nachhaltigkeit.

Weil viele unterschiedliche Akteure an der Datengenerierung beteiligt sind, soll es kein Eigentumsrecht an Daten, sondern Mitsprache- und Teilhaberechte geben. Um die Datenrechte des einzelnen zu klären, sind Umfang und Art seines Beitrags an der Datengenerierung zu untersuchen, sein Individualinteresse zu gewichten und mit konfligierenden Interessen abzuwägen, die Interessen der Allgemeinheit zu beachten und die Machtverteilung zwischen den Akteuren in den Blick zu nehmen (Kurzfassung, S. 9).

Die DEK empfiehlt u.a. Maßnahmen gegen eine ethisch nicht-vertretbare Datennutzung, Leitlinien für den Umgang mit den Daten pflege- und schutzbedürftiger Menschen, datenschutzfreundliche Produkte und Designs, sowie eine Förderung des Beschäftigtendatenschutzes. Personalisierte Tarife bei Versicherungen soll es nur in engen Grenzen geben.

Algorithmen können menschliche Entscheidungen unterstützen. Sie können aber auch menschliche Entscheidungen so prägen, dass die Selbstbestimmung von Menschen eingeschränkt wird. Und schließlich können sie Entscheidung ganz übernehmen, so dass Menschen im Entscheidungsprozess  keine Rolle mehr spielen (= automated decision making, ADM)

Bei algorithmischen Systemen empfiehlt die Kommission eine fünfstufige Bewertungsskala, die das Schädigungspotenzial dieser Systeme und Regulierungsmöglichkeiten auflistet: in einer niedrigen Gefährdungsstufe sollen z.B. eine Risikofolgenabschätzung des algorithmischen Systems durchgeführt und Transparenzpflichten, Kontrollen und Auditverfahren etabliert werden. In einer höheren Gefährdungsstufe empfiehlt die Kommission ex-ante-Zulassungsverfahren für Algorithmen, Live-Schnittstellen für Aufsichtsinstitutionen oder sogar vollständige und teilweise Verbote von algorithmischen Systemen (DEK-Kurzfassung, S. 19). Wichtig ist hier, dass nicht nur die Algorithmen als solche im Fokus stehen, sondern das ganze “sozio-technische System”, d.h. auch die beteiligten Menschen und die unterschiedlichen Phasen der Entwicklung, Implementierung und Evaluation algorithmischer Systeme.

Die DEK empfiehlt der Bundesregierung, die bestehenden  Aufsichtsinstitutionen zu stärken und ein neues Kompetenzzentrum für algorithmische Systeme auf Bundesebene zu schaffen. Aber auch die Ko- und Selbstregulierung wird empfohlen, wie DIN Normen und  Gütesiegel, sowie Kennzeichnungspflichten und ein bindender Codex für die Betreiber von algorithmischen Systemen. Sowohl bei der Ausarbeitung des bindenden Codex als auch in den Aufsichtsbehörden solle es Beiräte geben, in denen die Zivilgesellschaft vertreten ist.

Das Gutachten der DEK ist ein beeindruckender Beitrag zur Ethik der Digitalisierung. Die DEK unterstützt mit ihrem Gutachten den “europäischen Weg”, d.h. die europäische Strategie, Technologieentwicklung und Technologieeinsatz mit europäischen Werten und Grundrechten in Verbindung zu bringen. Was im Bericht meines Erachtens noch etwas zu kurz kommt, ist die kollektive Dimension: Datenrechte werden aus individueller Perspektive betrachtet. Es wird nicht klar, inwieweit die Gesellschaft an der Entwicklung digitaler Infrastrukturen und Tools mitwirken kann, welche Möglichkeiten also bspw. lokale Communities haben, ein smartes Quartier und eine smarte Stadt mitzugestalten. Über die Grenzen der Partizipation in eben diesen Smart Cities wurde hier im Blog schon an anderer Stelle geschrieben.

 

Smart Homes und AAL – ethische Herausforderungen

Smart Home-Technologien sind auf dem Vormarsch. Auf der Basis vernetzter Geräte und automatisierter Abläufe sollen Energieeffizienz und Lebensqualität von Räumen und Quartieren gesteigert werden. Speziell im Hinblick auf alte Menschen, Menschen mit Demenz und Menschen mit Behinderung versprechen altersgerechte Assistenzsysteme und Smart Services ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden.

Bei den AAL (Altersgerechten Assistenzsystemen) und Smart Services kommunizieren Geräte nicht nur untereinander, sondern auch mit den Bewohner*innen selbst und mit deren sozialem Umfeld (Angehörige, Pflegedienste). Sensoren an Gegenständen, an der Kleidung sowie Videokameras und Mikrophone ermöglichen eine Überwachung in Echtzeit und generieren fortlaufend Daten über die Bewegungsabläufe und den Gesundheitszustand der Bewohner*innen. Die intelligenten Geräte erinnern an die Einnahme von Medikamenten und an Verabredungen („nudging“). Sie ermöglichen den Kontakt zwischen dem Bewohner, seinem sozialen Umfeld und seinen pflegerischen und medizinischen Dienstleistern.

Smart Home-Technologien werfen ethische Fragen auf: einerseits unterstützen sie das selbstständige Wohnen, andererseits bedrohen sie die Privatsphäre des einzelnen angesichts des allgegenwärtigen Sensoring und Monitorings. Brolcháin/Gordijn setzen sich in ihrem Aufsatz „Privacy challenges in smart homes for people with dementia and people with intellectual disabilities“ (2019) mit den ethischen Herausforderungen von Smart Homes mit Blick auf die Privatheit auseinander. Die Fragen, die sie aufwerfen, berühren nicht nur die Zielgruppe „Menschen mit Demenz/mit Lernbehinderung“, sondern sind für alle Stakeholder des Smart Home-Themas relevant, d.h. für Bürger*innen, Technologieentwickler*innen, Smart Home-Anbieter, Stadtplaner*innen, soziale Dienste usw.

Brolcháin/Gordijn beleuchten fünf Dimensionen von Privatheit:

  • Informational privacy: in Smart Homes werden Daten gesammelt und gespeichert.
    Wer hat Zugriff auf die Daten, wie sicher sind sie gespeichert? Wie steht es um die Informationskontrolle seitens der Bewohner*innen? Auch bei einer Anonymisierung der Daten besteht die Gefahr einer Re-Identifizierung. Werden die vorhandenen Daten für das „Nudging“ eingesetzt, also das Verhalten des Bewohners manipuliert?
  • Physical privacy: inwieweit werden die häusliche und körperliche Intimität durch Sensoren, Kameras und Audioaufzeichnungen gefährdet?
  • Associational privacy: wer erhält über Kameras Einblick in den Haushalt eines Bewohners und ist über Monitore präsent in dessen vier Wänden?
  • Proprietary privacy: nicht nur die körperliche Privatsphäre, auch die seelische und geistige wird durch Gesichts- und Emotionserkennungs-Software bedroht
  • Decisional privacy: einerseits soll das Smart Home Bewohner*innen bei den Aufgaben des Alltags unterstützen. Andererseits gehen bei automatisierter Unterstützung Kompetenzen verloren und können aufgrund des Nudgings und des Monitorings Entscheidungen nicht mehr autonom gefällt werden.

Um die Privatheit in Smart Homes zu wahren, schlagen Brolcháin/Gordijn folgendes vor:

Eine informierte Einwilligung („informed consent“) der Bewohner*innen von Smart Homes in die Datenerhebung, – verarbeitung und -speicherung muss eingeholt werden, – ist aber nicht ausreichend,

  • denn nicht nur der Bewohner, sondern auch seine Gäste werden vom Sensoring und Monitoring berührt
  • eine Einwilligungserklärung kann nicht die Bandbreite der Privatheitswünsche für ganz unterschiedliche Situationen abdecken.

Brolcháin/Gordijn plädieren deshalb für folgendes (S. 261):

  1. Für eine kontextabhängige Bestimmung der Privatsphäre, die der Bewohner je nach Situation vornehmen soll
  2. Für eine kontextabhängige Bestimmung, wer Zugriff auf welche Daten hat oder ob die Datenerhebung und -verarbeitung im Einzelfall blockiert werden soll

In der Praxis bedeutet dies: der Bewohner eines Smart Homes wird mehrmals täglich in wechselnden Situationen um seine Einwilligung in die privacy-Settings gebeten, die er/sie dann je nach Situation unterschiedlich bestimmen kann. Die Einwilligungsformulare sollen digital vorliegen, d.h. auf tablets oder auf Bildschirmen in der Wohnung eingespielt werden. Auch Besucher*innen werden um ihre Einwilligung in die Datenerhebung und -verarbeitung gebeten. Bewohner*innen und Gäste sollen mehrmals täglich daran erinnert werden, dass eine Überwachung durch Sensoren und Kameras stattfindet. Brolcháin/Gordijn räumen ein, dass solch eine situativ zu erteilende Einwilligung für die Bewohner*innen zur echten Bürde werden kann, – sehen aber im Einzelfall keine andere Lösung.

Kritiker der informierten Einwilligung würden Brolcháin/Gordijn aus folgenden Gründen widersprechen:

Bei einer permanenten Abfrage von Privatheitswüschen wird die informierte Einwilligung schnell zu einem Ritual, bei dem man Fragen einfach „wegklickt“, um seine Ruhe zu haben, in diesem Fall erfolgt die Einwilligung faktisch uninformiert (Hofmann/Bergemann 2017). Der einzelne ist auch deshalb mit einer solchen Individualisierung der Datenschutzverantwortung überfordert, weil unser Urteil situativ ist (und laut Brolcháin/Gordijn explizit auch situativ sein soll). Wir überblicken aber in der Regel nicht den Wert unserer Daten, der sich durch deren Zusammenführungen ergibt (Big Data) und in Zukunft ergeben kann. Durch das Machtungleichgewicht zwischen dem einzelnen und den digitalen Anbietern können letztere ihre Datenforderungen „nahezu unbegrenzt“ (Hofmann/Bergemann) anheben, – der einzelne wird zustimmen, wenn er die digitale Leistung oder das Smarte Home nicht verlieren will. Viele individuelle uninformierte Einwilligungen können aber im Endergebnis zu negativen Folgen für das Gemeinwohl führen. Deshalb plädieren Hofmann/Bergemann (2017) dafür, das „Datenschutzphantom“ der informierten Einwilligung von seinem Sockel als zentrales Datenschutzinstrument zu stoßen und andere Regulierungsformen in den Blick zu nehmen.

Dass dabei gesetzliche Regelungen eine ganz zentrale Rolle spielen sollten, wird auch von Brolcháin/Gordijn vertreten. Denn sie räumen ein, dass ihr Vorschlag einer situativ zu erteilenden Einwilligung die Zunahme der Datenerhebung und Verletzung der Privatsphäre letztlich gar nicht verhindern kann, weil Unternehmen dazu neigen, nach und nach ständig mehr Daten einzusammeln und sich dafür sukzessive die Zustimmung einzuholen. Kritiker sehen in der informierten Einwilligung denn auch eine ideale Grundlage für den zeitgenössischen Datenkapitalismus. Brolcháin/Gordijn fordern, dass Regierungen der Wirtschaft verbindlich vorgeben, welche Art von Daten überhaupt erhoben werden dürfen und wie viele Einwilligungen mit welchem Umfang Bürger*innen vorgelegt werden können, – unter besonderer Berücksichtigung derjenigen, die beeinträchtigt und hilfsbedürftig sind.