Folgen der Digitalisierung für die Koproduktion im Sozialsektor

Veiko Lember analysiert in seinem aktuellen Aufsatz: „The Increasing Role of Digital Technologies in Co-production“(2018), wie die Digitalisierung die Zusammenarbeit von Bürgern und Institutionen verändert. Er konzentriert sich dabei auf den Bereich der öffentlichen Dienstleistungen.

In diesem Blogbeitrag sollen seine Erkenntnisse auf die Sozialwirtschaft übertragen werden, wo Koproduktion eine ganz zentrale Rolle spielt: Ohne die aktive Beteiligung von Klienten bzw. Nutzern sozialer Dienste können letztere nicht wirklich erfolgreich erbracht werden. Über die Koproduktion im Sozialbereich sind hier im Blog schon einige Artikel veröffentlicht worden, – wer sich näher informieren möchte recherchiert einfach unter dem Schlagwort „Koproduktion“.

Veiko Lember geht in seinem Aufsatz davon aus, dass durch die zunehmende Digitalisierung unserer Lebenswelt die etablierten Koproduktionsverfahren im Bereich öffentlicher Dienstleistungen a) ergänzt b) ersetzt oder c) verändert werden. Im Sozialbereich ist also mit folgendem zu rechnen:

  1. Ergänzung der Koproduktion:
    Die Digitalisierung hilft sozialen Organisationen dabei, sich mit ihren Nutzern besser zu koordinieren und mehr Informationen bereit zu stellen (Lember 2018, 4). Über Apps wird Hilfe und Beratung geleistet, Bildtelefonie, Videos, Chaträume, Online-Lernprogramme und Online-Coaching helfen Nutzern dabei, ihre Probleme gemeinsam mit der sozialen Profession zu lösen. Nutzer/innen bringen in diese Prozesse ihr eigenes Wissen und auch ihre Daten ein (Gesundheitsdaten, Fitnessdaten, Klienten-Aufzeichnungen usw.). Die Nutzerdaten ergänzen hier die Koproduktion und ersetzen sie nicht wie im Fall einer Automatisierung, die im folgenden Punkt behandelt wird.
  2. Ersetzung der Koproduktion:
    Wenn Klientendaten automatisiert erhoben und ausgewertet werden, wenn dadurch automatisch Dienstleistungsprozesse starten und das Verhalten oder die gesundheitliche Situation von Klienten nicht nur für den Moment analysiert, sondern auch vorausgesagt werden, dann wird die handlungsorientierte und gemeinschaftliche Koproduktion ersetzt durch Technologien (Lember 2018, 6). Dies ist heute schon der Fall im Bereich der Psychiatrie, wo Klienten mit Sensoren und Kameras überwacht werden und auch in der Pflege, wo Sensoren, Smart-Home-Technik, Telemonitoring und Telecare Klienten überwachen und Hilfseinsätze automatisiert ausgelöst werden. Algorithmen helfen bei der Auswertung von Klientendaten und ermöglichen das Vorhersehen von Krisensituationen. In diesem Setting spielt der Nutzer eine komplett passive Rolle .Die Koproduktion kann jedoch auch ersetzt werden durch eine aktive Rolle des Nutzers (Lember 2018, 7). Immer mehr Bürgerinnen und Bürger verabschieden sich von öffentlichen oder gemeinnützigen Dienstleistern und entscheiden sich für die Selbstorganisation. Gemeinsam mit anderen gründen sie Pflege-WGs, Kindertagesstätten, gemeinschaftliches Wohnen für Menschen mit Behinderungen, Hilfsdienste und Nachbarschaftsinitiativen. Die digitalen Technologien und Plattformen helfen Bürgern bei der Selbstorganisation und ersetzen so die traditionellen Koproduktionsprozesse.
  3. Veränderung der Koproduktion:
    Laut Lember (2018, 4) entstehen durch die digitalen Technologien ganz neue Settings in der Zusammenarbeit zwischen Bürgern und Organisationen. Dazu zählen u.a.  das crowdsourcing (Bürgerwissen oder Spenden werden für soziale Organisationen über digitale Plattformen gesammelt), Hackathons (Bürger entwickeln für die Sozialwirtschaft neue digitale Tools) und gamification (über Online-Spiele und Wettbewerbe mit Rankings wird das Nutzerverhalten beeinflusst).

Lember kritisiert, dass die im Koproduktionsprozess eingesetzten Technologien zumeist nicht von Bürgern, sondern den Organisationen ausgewählt werden – auch im Sozialbereich. Es sind damit die Organisationen, die bestimmen, was? wie? erhoben und angeboten wird. Die eingesetzten Technologien sind zumeist im Besitz von privaten Unternehmen. Hier sammeln sich Macht und Intransparenz.

Viele der digitalen Angebote gehen am Bedarf der Nutzer/innen vorbei, weil diese kein Mitspracherecht haben und auch soziale Organisationen können ihr Wissen gegenüber den Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, die viele der digitalen Angebote entwickeln, zumeist nicht durchsetzen. Dies zeigt sich deutlich in der Pflege, siehe die Studie ePflege aus dem Jahr 2017. Auch die Exklusion von Nutzern spricht Veiko Lember an (2018, 9), – Menschen, die Schwierigkeiten im Umgang mit digitalen Technologien haben und an der digitalen Koproduktion deshalb nicht mitwirken können.

Soll die Koproduktion mit Hilfe digitaler Technologien auf Akzeptanz stoßen, müssen die Nutzer/innen Mitsprachemöglichkeiten haben, wenn es um die Auswahl und Ausgestaltung der Technologien geht. Dass im Alltag sehr häufig top down-Technologien eingesetzt werden, zeigt auch der letzte Blogbeitrag über Cardullo/Kitchins Studie zum Thema Partizipation in der Smart City (2017).

Digitale Teilhabe muss auch in der Sozialwirtschaft ein wichtiges Thema werden. Bastian Pelka schildert in seinem Aufsatz für den Sammelband von Kreidenweis (2018): “Digitaler Wandel in der Sozialwirtschaft” einige Partizipationsprojekte (PIKSL, MakerSpaces, FabLabs). Aber die digitale Teilhabe muss auch im Verhältnis Sozialorganisation und Nutzer/innen etabliert werden, nicht nur im Hinblick auf die Stellung des einzelnen in der digitalen Gesellschaft.

Literatur:
Lember, Veiko (2018): The role of new technologies in co-production, in: Brandsen, T./Steen, T. /Verschuere, B. (Hrsg): Co-production and co-creation: engaging citizens in public service delivery. Routledge, im Erscheinen.

Pelka, Bastian (2018): Digitale Teilhabe: Aufgaben der Verbände und Einrichtungen der Wohlfahrtspflege, in: Kreidenweis, Helmut (Hrsg): Digitaler Wandel in der Sozialwirtschaft, Baden-Baden: Nomos

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