Kategorie-Archiv: Nonprofit-Organisation

Koproduktion stärken – Reformvorschläge freier Träger

Das Konzept der Koproduktion rückt auch in Deutschland langsam in den Fokus sozialer Organisationen. So organisierte erst kürzlich die Schader-Stiftung eine Tagung zum Thema unter Beteiligung von freier Wohlfahrtspflege, Kommunen und der Wissenschaft. Die auf der Tagung entwickelten Leitthesen appellieren an alle gesellschaftlichen Sektoren, “gemeinsam Verantwortung zu übernehmen”. Dass mehr Verantwortung auf Bürgerseite auch mehr Beteiligung implizieren muss, ist in den Thesen kein prominentes Thema. Gesucht wird primär nach “Strukturen neuer Verantwortungen” (S. 2), – und nicht nach Strukturen neuer Beteiligungsmöglichkeiten.

Auch aus den Wohlfahrtsverbänden kommen Reformvorschläge, die auf Koproduktion zielen und damit auf die Einbindung von Bürgern in die Erbringung sozialer Dienstleistungen. Eine handvoll großer stationärer Träger aus dem Altenhilfe- und Behindertenbereich haben sich unter dem Namen “SONG” (“Soziales neu gestalten”) zu einem Netzwerk zusammengeschlossen – unterstützt von der Stiftung Bürgermut. Das Netzwerk will neue quartiersbezogene Wohn- und Assistenzkonzepte als ergänzende Angebote zur stationären Versorgung entwickeln, sicher auch vor dem Hintergrund, dass sich gerade stationäre Versorger nach neuen Märkten umsehen müssen. Angestrebt wird ein “lokal-kooperatives Sozialmodell”, das auf den Prinzipien “Personalität, Solidarität, Subsidiarität sowie Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit” basiert.

Bürger sind Teil der SONG-Konzepte, weil in der “bürgerschaftlichen Eigenverantwortung” bzw. der Koproduktion sozialer Dienstleistungen die Zukunft gesehen wird (s. hier). Einen Überblick über die Projekte des Netzwerks und anderer quartiersnaher Altenhilfelösungen sammelt eine Dokumentation des Deutschen Städte-und Gemeindebundes, die im Dezember 2012 erschien.

In dieser Dokumentation werden von kommunaler Seite und von SONG, also aus dem Wohlfahrtsbereich heraus, Forderungen an die freie Wohlfahrtspflege formuliert:

  • Wohlfahrtsträger müssten sich neu orientieren, “weg von einer bloßen Investoren- und Dienstleisterrolle, hin zu gemeinwesenorientierten Akteuren” (S. 28)
  • Lokale Netzwerke und Kooperationen sollten gestärkt werden: “Die Akteure müssen lernen, nicht gegeneinander, sondern mehr miteinander in Netzwerken zu arbeiten und Berührungsängste zu überwinden”(S. 28)
  • Betroffene sollten zu Beteiligten werden: Aktivitäten der Quartiersbewohner sollten durch die Wohlfahrtsträger gefördert und Mitwirkungsmöglichkeiten aufgezeigt werden: ” Auch bei der Planung und Gestaltung der Dienstleistungen sind die Nutzer durch geeignete Partizipationsverfahren einzubeziehen” (S. 29)
  • Die Rolle der Mitarbeiter müsse sich verändern. Über die qualifizierte Pflege und Betreuung hinaus sollten sie “mehr und mehr zum Moderator und Manager des Systems werden. Dabei kooperieren sie mit unterschiedlichen lokalen Akteuren” (S. 28).

Um die Mitarbeiter entsprechend weiterzubilden hat das SONG-Netzwerk das Qualifizierungsprojekt “LoVe” initiiert, bei dem Fach- und Führungskräfte der sozialen Arbeit die “gleichberechtigte Zusammenarbeit mit Pflege- und Assistenzfachkräften sowie mit bürgerschaftlich engagierten Menschen” lernen (Overkamp 2011, S. 101).

Für das Co-Design von Hilfsangeboten bzw. für die oben angemahnten “geeigneten Partizipationsverfahren”, um Bürger in die Planung und Ausgestaltung von Dienstleistungen einzubeziehen, gibt es noch keine detaillierten Konzepte von SONG-Seite. In der DStGB-Dokumentation werden die Angaben hierzu ganz allgemein gehalten (“Befragungen, Quartiersbegehungen, Bürgerforen und -werkstätten”, S. 28) und scheinen nicht über deliberative Verfahren hinauszugehen. Auch bei den vorgestellten Modellprojekten selbst sind viele top-down initiiert und geplant.

Damit die vom Netzwerk angestrebte Beteiligung von Bürgern gelingt, muss sich in der Praxis der Verbände und Kommunen noch vieles verändern. Vor allem müsste die Beteiligung der Bürger an der Planung und dem Design sozialer Dienste deutlicher auf die Agenda gesetzt werden. Die obengenannten SONG-Prinzipien umfassen ‘Beteiligung’ nicht. Das SONG-Konzept ist ganz aus der Perspektive von Dienstleistern geschrieben, die versuchen, auf lokaler Ebene den neuen welfare-mix aus gemeinnützigen und öffentlichen Diensten, aus kommerziellen Anbietern und informellen Netzen neu auszutarieren und zu steuern. Würde man nicht aus dieser Dienstleistungsperspektive heraus denken, sondern aus der Beteiligungsperspektive, dann müsste das Co-Design einen viel höheren Stellenwert erhalten und Quartierskonzepte wären auch unter dem Blickwinkel von “Nachbarschaftsdemokratie” zu betrachten.

Soziale Medien spielen übrigens keine Rolle in den vorgestellten lokalen Modellprojekten und in den Zielen des SONG-Netzwerks. Es wird nicht versucht, lokale Netzwerke und die wechselseitige Abstimmung der Akteure durch Online-Formate wie Blogs und Communities zu unterstützen und weiterzuentwickeln. Das Denken der freien Wohlfahrtspflege ist im Kern immer noch ganz analog. Dagegen wird im Ausland das Internet zum community-building im Stadtquartier, zur lokalen Kooperation oder zur Koordinierung personenbezogener Hilfsnetzwerke längst eingesetzt. Siehe die folgenden Beispiele: Online Neighbourhood Networks Study, Crossroads Care Croydon Tyze Personal Networks. Immerhin ist das SONG-Netzwerk auf der Weltbeweger-Plattform präsent, wo es sein Wissen teilen möchte (allerdings nicht mit der ganzen Öffentlichkeit).

Literatur (wenn nicht verlinkt):

  • Overkamp, Ulrike (2011): Assistenz statt Hilfe. Das Projekt ‘Lokale Verantwortungsgemeinschaften in kleinen Lebenskreisen’, in: Blätter der Wohlfahrtspflege, Heft 3, S. 101-103.

 

Koproduktion und Co-Design in Leistungsvereinbarungen aufnehmen

Koproduktion in den sozialen Diensten bedeutet, dass Bürger an der Planung und Erstellung von Dienstleistungen mitwirken.

An der Produktion sozialer Dienste sind Bürgerinnen und Bürger als Betroffene, Angehörige und Freiwillige schon heute beteiligt. Allerdings fehlt ihnen in der Regel die Möglichkeit, die angebotenen Dienstleistungen inhaltlich mitzugestalten. Auch wenn Bürger durch ein persönliches Budget ermächtigt werden und sich der einzelne sein Dienstleistungsangebot selbst zusammenstellen kann (zumindest in der Theorie), so bleibt er dabei doch Konsument vorgefertigter Leistungen, d.h. er hat zumeist keinen Einfluss auf das Service Design des jeweiligen Diensteangebots.

Koproduktion bzw. die Beteiligung von Bürgern im Sozialbereich muss sich aber auf den ganzen Zyklus eines Hilfsangebots, also auch auf die Planungs- und Ausgestaltungsphase beziehen. Nur so erhält der einzelne die Möglichkeit, über das “wie” in der Pflege, Betreuung und Behandlung mitzubestimmen. Umgekehrt profitieren soziale Dienste von einer Einbeziehung der Bürger in Planungsprozesse. Die Qualität sozialer Dienstleistungen offenbart sich gerade im Nutzungsprozess, – so dass ohne eine Beteiligung bestehender und zukünftiger Nutzer keine effektive Dienstleistung konzipiert werden kann, – es fehlen in diesem Fall das Nutzungswissen und die Nutzungserfahrungen der betroffenen Bürger. Statt auf fertige Dienstleistungsprodukte zu setzen, müssen Austauschprozesse mit den Stakeholdern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sozialer Dienste treten.

Wie können Koproduktion und Co-Design in sozialen Diensten umgesetzt werden?

Eine Studie der britischen new economic foundation (nef) vom Dezember 2012 analysiert, welche Aspekte die Beteiligung von Bürgern fördern (Quelle und mehr zum Projekt hier). Zum einen auf der Ebene der Organisation: hier muss die Führung gesammelt hinter dem Ziel der Koproduktion stehen und den Mitarbeitern signalisieren, dass Koproduktion zum “default way of working”, d.h. zum Arbeitsstandard in der Einrichtung werden soll (nef 2012, S. 2). Zu diesem Zweck braucht die Führung den regelmäßigen Austausch mit den Nutzern der Einrichtung. Statt einer Steuerung auf “Armeslänge” ist ein enger Kontakt mit den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern angesagt.

An der Organisationsbasis muss die Beteiligung von Bürgern alltäglich werden. Mitarbeiter brauchen dafür entsprechende Schulungen. Auch die Stellenbeschreibungen sollten jene Kompetenzen und Aufgaben umfassen, die für koproduktives Arbeiten notwendig sind (nef 2012, S. 5).

Die größte Hürde, die es für die Koproduktion zu nehmen gilt, sind jedoch die Leistungsvereinbarungen, die soziale Dienste mit der öffentlichen Hand bzw. den Kostenträgern schliessen. Für diese Vereinbarungen werden Rahmenverträge auf Landesebene zwischen den überörtlichen Sozialhilfeträgern bzw. den Landesverbänden der Kassen und den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege erarbeitet. Wie ein solcher Vertrag aussieht, der Art, Umfang und Vergütung sozialer Dienstleistungen festlegt, kann man sich am Beispiel des Rahmenvertrags ambulante Pflege des Landes Berlin ansehen (Quelle und weitere Links hier). Wie detailliert der Rahmen für die Dienste ist, kann man auch gut am Vergütungssystem ambulanter Leistungen erkennen, siehe die Anlage 1 zum Rahmenvertrag.

Entsprechende Rahmenverträge sind keine Berliner Spezifität, sondern es gibt sie in derselben Art in allen Bundesländern, – nur hat Berlin sie auch veröffentlicht, im Unterschied zu den meisten anderen staatlichen oder freigemeinnützigen Stellen, die über die Rahmenverträge und örtlichen Leistungsvereinbarungen in der Regel nichts preis geben.

An den Kontraktverhandlungen zwischen Staat und freien Trägern sind Bürger nicht beteiligt. In den Kontrakten selbst wird die Beteiligung von Bürgern an der Leistungsausgestaltung nicht erwähnt. Immerhin können Nutzer und ihre Angehörige in Qualitätsdialoge einbezogen werden (BRV Jug, Anlage B, Punkt 3).

Um Koproduktion und Co-Design zu institutionalieren, müssten entsprechende Vorgaben in die Rahmenverträge und örtlichen Leistungsvereinbarungen einfließen. Auf lokaler Ebene hat in Großbritannien Camden Town einen solchen Versuch unternommen und Koproduktions-Vorgaben in ihre Leistungsausschreibung für einen sozialen Dienst eingefügt:

” We would encourage providers to adopt the model of ‘co-production’ whereby services are planned and delivered in mutually beneficial ways that acknowledge and reward local ‘lay’ experience while continuing to value professional expertise. Service users should be regarded as an asset and encouraged to work alongside professionals as partners in the delivery of services. (…) Networks of friends and families should also be considered positive co-contributors to success in this approach” (nef 2012, S. 5).

Auch Australien will im öffentlichen Sektor neue Wege gehen und das Co-Design etablieren, gerade in den Bereichen, in denen die Beziehungen zwischen Bürgern und Staat komplexer sind und über standardisierbare Verfahren hinausgehen wie im Bereich sozialer Dienste (Lenihan/Briggs 2011). Co-Design ist der australischen Regierung zufolge mehr als Konsultation und Kundenbefragung, – “It means engaging with individuals and groups from the beginning to the end of the process” (zit. nach Lenihan/Briggs 2011, S. 35).

Zukunft der Bürgergesellschaft

Welche Entwicklung soll die aktive Bürgergesellschaft in unserem Land nehmen?

Dazu äußert sich ganz aktuell die “Denkschrift Bürgergesellschaft”(2012) von Backhaus-Maul/Nährlich/Speth, die schon 2009 in die Diskussion eingebracht und jetzt aktualisiert wurde.

Die Autoren kritisieren in der Denkschrift die “fatale Staatsabhängigkeit” der hiesigen Bürgergesellschaft, die es zu durchbrechen gelte. Defizite werden speziell in der Steuerung, Finanzierung, Transparenz und Rechenschaft von bürgerschaftlichen Akteuren gesehen (S. 3). Als Ziel wird die Selbststeuerung und Selbstorganisation der Bürgergesellschaft formuliert, die möglichst frei von administrativer und parteipolitischer Einflussnahme sein soll (S. 22ff).

Auffällig ist, dass in der Denkschrift die Beteiligung von Bürgern an Entscheidungen im Dritten Sektor nicht thematisiert wird. Auch eine Reflexion der Rolle gemeinnütziger Organisationen als demokratische Akteure sucht man in der Denkschrift vergebens. Die Organisationen der Bürgergesellschaft werden von vornherein als “zivil” und “demokratisch” eingestuft. Sie können sich den Autoren zufolge nur entwickeln, wenn sich der Staat zurückzieht. Dass ein demokratischer Staat aber – trotz mancher Fehlsteuerung – die Voraussetzungen garantiert, die für die Entfaltung einer zivilen Bürgergesellschaft notwendig sind (siehe Evers 2009), wird nirgends gewürdigt.

Den staatlichen Serviceeinrichtungen für das Bürgerengagement wird vorgeworfen, dass es sich hier zwar um staatliche Akteure handle, die aber nicht mehr “im Sinne einer staatlichen Handlungslogik und in staatlichen Handlungsstrukturen” agierten. Diese Aussage führt zum Kern der Argumentation: offensichtlich wird “Zivilität” und “Bürgerschaftlichkeit” mit dem Dritten Sektor gleichgesetzt und nicht gesehen, dass Zivilität und Bürgerschaftlichkeit auch in anderen Sektoren – im Staat, in der Wirtschaft – als Haltung vorhanden sein können: “people can act and speak civicly in all sorts of organizations” (Eliasoph 2009, 294).

Demokratie und Zivilität werden nicht durch den Rückzug gemeinnütziger Organisationen in “ihren” Sektor gestärkt, sondern durch den Austausch aller – über Sektorengrenzen hinweg – die bereit sind, Bürgern mehr Handlungsspielräume zuzugestehen. Staatliche Akteure gehören bei diesem Austausch selbstverständlich dazu: “Demokratische Staatlichkeit ist eine zentrale Ressource für soziales Kapital – und Zivilität” (Evers 2009, S. 84).

Die Autoren kritisieren zu Recht die zum Teil ausgeprägten Regulierungsversuche des Staates gegenüber dem Bürgerengagement. Sie verweisen auch auf die Strategie der Exekutive, in diesem Feld noch mehr Kompetenzen an sich zu ziehen. Aber sie kritisieren nur den Staat. Sie verschließen ihrerseits die Augen vor den Defiziten gemeinnütziger Organisationen, wie der häufig unterentwickelten Partizipationskultur. Die Stellung von Bürgerinnen und Bürgern gegenüber gemeinnützigen Organisationen und Staat wird in der Denkschrift nicht beleuchtet. Die Autoren argumentieren aus einer gänzlich institutionellen Perspektive heraus. Sie sehen die “Organisationen der Bürgergesellschaft in einem latenten Konfliktverhältnis mit Staat, Wirtschaft und Gesellschaft” (S. 3). Sehr häufig ist davon aber nichts zu bemerken. Sondern Staat und gemeinnützige Verbände werden sich einig, wenn es darum geht, inhaltliche und finanzielle Regelungen für ein Politikfeld – wie den Sozialsektor – zu finden. Die einzigen, die hier am Rand stehen und keine Mitsprachemöglichkeiten besitzen, sind die Bürger selbst, – ein Umstand, der den Autoren kein Kopfzerbrechen bereitet.

Die Zukunft der Zivilgesellschaft und unserer Demokratie liegt gerade im Ausbau der Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger. Nicht der Rückzug – “exit” – in den eigenen Sektor, wie ihn die Autoren vorschlagen, ist die Lösung, sondern die verstärkte Beteiligung von Bürgern – “voice” – an der Entscheidungsfindung in allen Sektoren. Notwendig ist eine Demokratisierung kommunaler Politik- und Verwaltungsprozesse und der gemeinützigen Arbeit. Bürgerinnen und Bürger wollen im Alltag mehr Mitsprache. Die von den Autoren kritisierte Koproduktion – Bürger helfen mit bei der Erstellung von Dienstleistungen – verschwindet nicht durch diese Kritik. Vielmehr muss es darum gehen, Bürgern garantierte Mitsprachrechte bei der Planung, dem Design, der Steuerung und der Evaluation von politischen Programmen einzuräumen.

Das ist eine Botschaft, die viele der Organisationen der Bürgergesellschaft verunsichern wird, die sich bisher häufig mit ihren eigenen professionellen Standards befassen, – und nicht mit dem Willen der Bürger. Die Denkschrift hat dieses Feld – das den Dritten Sektor noch sehr beschäftigen wird – komplett ausgeklammert. Es stellt sich die Frage, welches politische Gewicht einer Denkschrift zukommt, die in der heutigen Zeit den Bereich der Bürgerbeteiligung vollkommen ausspart?