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Digitale Teilhabe von Bürgern mit Behinderungen

Dieser Artikel bildet den zweiten Teil einer 3-teiligen Serie zum Thema “Partizipation behinderter Menschen”. Der erste Blogartikel befasste sich mit ihrer Beteiligung in den sozialen Diensten. Der nächste Beitrag thematisiert das freiwillige Engagement von Bürgern mit Behinderungen (30.1.). Ich freue mich über Feedback!

Lange Jahre dominierten die Themen ‘Barrierefreiheit’ und ‘Zugänglichkeit’ die Diskussion um die Teilhabe behinderter Menschen an der digitalen Welt. Noch ist diese Zugänglichkeit für Menschen, die in stationären Wohnformen leben, aber auch für viele, die ambulant betreut werden, nicht durchgehend gesichert, wie Freese/Mayerle in der SI:SO 1/2013 schreiben, einem Schwerpunkt-Heft über digitale Teilhabe. Die Diskussion habe sich dennoch verschoben: statt der ‘Zugänglichkeit’ stehe jetzt die ‘Nutzbarkeit’ digitaler Medien im Mittelpunkt.

Die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) durch Bürger mit Behinderungen, speziell jenen mit Lernschwierigkeiten, wird im schulischen Bereich und durch Assistive Technologien forciert. Zu wenig wird aber Freese und Mayerle zufolge das Potential von ICT für die alltägliche Lebensführung und für Inklusion ausgeschöpft. Egal ob es um die Pflege von Freundschaften, die Kompetenzentwicklung für den Arbeitsmarkt, alltägliche Dienstleistungen oder die Teilhabe an öffentlichen Aktivitäten geht – Informations- und Kommunikationstechnologien spielen hier eine zentrale Rolle, auch für Menschen mit Behinderungen. Deren Selbstständigkeit und Selbstbestimmung wird gefördert, wenn sie ihren Alltag und ihre sozialen Kontakte mit Hilfe von PC und Internet “in einer vertrauten Umgebung, in frei wählbarem Tempo, unabhängig von Öffnungszeiten und mit vertrauter und individuell angepasster Hard und Software” steuern können (SFIB, zit. nach Freese/Mayerle 2013, 9). Die UN-Behindertenrechtskonvention schreibt in Artikel 4, dass der kompetente Umgang mit Neuen Technologien unerlässlich ist, um Menschen- und Bürgerrechte voll ausschöpfen zu können, entsprechend muss deren Zugänglichkeit und Nutzung für Behinderte sichergestellt werden.

Die Vermittlung von Medienkompetenz und -bildung muss deshalb in den Alltag der Behindertenhilfe integriert werden. Zur Aufgabe der Mitarbeiter/innen sollte zukünftig auch der Medienbereich gehören: die Profession muss behinderte Menschen darin unterstützen, Informations- und Kommunikationstechnologien möglichst selbstbestimmt zu nutzen (Freese/Mayerle 2013, 8). Während viele Mitarbeiter in der Behindertenhilfe neue Technologien hauptsächlich als technisches Hilfsmittel betrachten, um Beeinträchtigungen kompensieren zu können, sollten im Feld Behinderung die Chancen der neuen Technologien für eine Teilhabe am Gemeinwesen stärker in den Mittelpunkt rücken (ebd., 7). Dazu gehöre auch, dass die “bewahrende” professionelle Haltung kritisch betrachtet wird, die den Nutzern mit Lernschwierigkeiten eine selbstbestimmte Entscheidung über ihren Medienkonsum nicht immer zutraut (Freese 2013, 50).

Da die Behindertenhilfe zum Teil ambulanter wird und sich manche Dienstleistungen in den digitalen Raum verlagern (Beratung, Betreuung, Assistenz), profitieren die Mitarbeiter selbst von mehr Kompetenzen in den neuen Technologien, da immer mehr Beziehungen digital gesteuert und mehr Aufgaben über das Internet erledigt werden müssen. Eine Weiterbildung der Mitarbeiter im digitalen Bereich ist damit geboten. Die Weiterbildungsinhalte für die Profession sollten jedoch von den behinderten Nutzern mitbestimmt werden können, damit die Medienbildung nicht für Behinderte, sondern gemeinsam mit ihnen stattfindet.

Ein gutes Beispiel, wie Menschen mit Lernschwierigkeiten ihr Wissen und ihre Erfahrungen in einen Gestaltungsprozess einbringen können, bietet das PIKSL-Labor in Düsseldorf, ein gemeinnütziges Projekt, getragen von der freien Wohlfahrtspflege. Im PIKSL-Labor “kommen Menschen mit und ohne Behinderung zusammen, um voneinander zu lernen und Ideen im Umgang mit alltäglichen (digitalen) Problemstellungen zu entwickeln” (Freese 2013, 50) . Menschen mit Lernschwierigkeiten werden als Experten betrachtet, die Barrieren erkennen und Ideen für deren Abbau einbringen können. Gemeinsam werden im Team barrierearme digitale Lösungen entwickelt, u.a. ein Content-Management-System, das auf Piktogrammen basiert, um das digitale Publizieren und damit die Teilhabe am öffentlichen Diskurs zu vereinfachen. Die PIKSL-Aktiven mit Lernschwierigkeiten geben zwischenzeitlich ihre gesammelten Internet-Kenntnisse an Senioren aus dem Stadtteil weiter, die ebenfalls von niedrigschwelligen, barrierearmen Angeboten profitieren.

Das Co-Design von Lösungen durch Profis und Nutzer funktioniert hier im Bereich digitaler Technologien. Es würde sich auch im Bereich der Behindertenhilfe insgesamt bewähren, gäbe es mehr Räume für Partizipation. Es wäre lohnenswert, wenn man die Co-Design-Erfahrungen, die das PIKSL-Team seit 2011 sammeln konnte, in andere Sachbereiche transferieren würde, um kooperative Entscheidungsprozesse zu ermöglichen.

Was fördert und was hemmt die Social Media-Nutzung durch Nonprofits?

Welche Faktoren fördern und welche bremsen die Nutzung sozialer Medien durch gemeinnützige Organisationen?

Eine Studie aus den USA von Nah/Saxton, die im März 2013 in New Media & Society (Heft 2, 294-313) veröffentlicht wurde, untersucht anhand der 100 größten amerikanischen Nonprofits, welche Organisations- und Umweltfaktoren dazu führen, dass gemeinnützige Akteure soziale Medien nutzen.

Der Begriff “Nutzung” wird operationalisiert in “Präsenz in den sozialen Medien”, “Häufigkeit von Updates” und “Dialogorientierung”. Letztere wurde durch die qualitative Untersuchung von über 2400 Tweets und über 1000 Status Updates auf Facebook untersucht. Twitter und Facebook bilden die zwei Social Media-Plattformen, auf denen die Studie basiert. Der Untersuchszeitraum war in 2009.

Die Studie kommt zu folgenden Ergebnissen (siehe Nah/Saxton 2013, 306f):

Gemeinnützige Organisationen, die sich über Gebühren und Entgelte finanzieren, sind eher in den sozialen Medien aktiv. Ebenso wie jene Nonprofits, die von Spendern abhängig sind. Organisationen, die sich über staatliche Förderung finanzieren, sind in den sozialen Medien weniger aktiv. Auch Organisationen mit hohen Fundraising- und Lobbying-Ausgaben nutzen soziale Medien seltener und weniger dialogorientiert. In beiden Fällen stehen die hohen Ausgaben für offline-Aktivitäten, aber nicht für Online-Engagement.

Effiziente Organisationssteuerung und Social Media- Nutzung stehen in einem engem Zusammenhang. Ebenso spielt die Existenz einer Organisations-Webseite mit hoher Reichweite eine ganz wichtige Rolle: Nonprofits, die über eine solche Webseite verfügen, besitzen die Kompetenzen und Ressourcen, um auch den Schritt in die sozialen Medien zu unternehmen.

Gemeinnützige Organisationen, die auf Mitgliedschaft basieren und auf demokratischen Strukturen aufbauen, sind eher weniger im Social Web aktiv: die bestehenden Mitsprachemöglichkeiten für die eigenen Mitglieder machen eine Präsenz in den sozialen Medien und deren dialogorientierte Nutzung weniger wahrscheinlich.

Diesen letzten Aspekt finde ich sehr interessant. Zusammen mit der empirisch belegten Bedeutung einer Organisations-Webseite mit hoher Reichweite kann so die Social Media-Abstinenz vieler Vereine und Sozialverbände auf lokaler Ebene erkärt werden.

Da häufig Stadtteileinrichtungen von Verbänden oder Stadtteil-Gruppen über keine selbstverwaltete Webpräsenz verfügen – die Organisationswebseite wird vom (über)örtlichen Träger zentral gepflegt – fehlen in den Stadtteilen häufig die Kompetenzen, Mittel und Erfahrungen, die es für ein Engagement in den sozialen Medien braucht. So ist der Aufbau von sozialem Kapital über das Internet im Quartier für die dortigen Organisationen nicht möglich.

Ebenso wirkt sich die Konzentration auf interne Beteiligungsstrukturen wie Mitgliederversammlungen und Fachgruppen negativ auf eine Social Media-Präsenz aus und auf die Dialogbereitschaft gegenüber der gesamten Öffentlichkeit.

Umgekehrt bedeuten diese Ergebnisse, dass Vereine und Verbände lokal und stadtteilbezogen mehr in die Internetkompetenzen der Akteure investieren müssen. Und dass ihr binnenorientierter Blick sich zur Gesellschaft hin weiten muss, wenn eine Social Media-Präsenz angestrebt wird.

Die Studie zeigt am Schluss auch auf, dass es problematisch ist, von “den” sozialen Medien generell zu sprechen. Obwohl bspw. ein positiver Zusammenhang zwischen Spenderabhängigkeit und Social Media-Nutzung existiert, korreliert hier nur Facebook positiv, aber nicht Twitter (Nah/Saxton 2013, 304, 306), was bedeutet, dass die einzelnen Tools und die Organisationsmerkmale in ganz unterschiedlichem Zusammenhang stehen.

Wichtig ist, die Beschränkungen der dennoch hochinteressanten Studie nicht aus den Augen zu verlieren: untersucht wurden lediglich die größten Nonprofit-Organisationen, nicht aber kleinere und mittlere.

Bürgerschaftliches Engagement als Bürgerbeteiligung – welche Möglichkeiten bietet das Internet?

Für den eNewsletter des Netzwerk Bürgerbeteiligung habe ich einen Beitrag geschrieben unter der Überschrift “Bürgerschaftliches Engagement als Bürgerbeteiligung: Welche Möglichkeiten bietet das Internet?” (Ansicht siehe unten).

Der Beitrag kritisiert eingangs kommunale und gemeinnützige Strategien zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements und fordert dazu auf, Bürgerengagement stärker als Bürgerbeteiligung zu konzipieren. Bürger/innen müssen die Möglichkeit erhalten, die soziale Infrastruktur einer Gemeinde, die Konzeption von Diensten und die Hilfe im Einzelfall (als Betroffener) mitzugestalten. Es wird aufgezeigt, welche Bedeutung digitale Aktionsnetzwerke zwischenzeitlich haben, die Bürger über Online-Medien einbinden, ohne deren Engagement zentral zu steuern, – im Unterschied zu traditionellen Strategien kollektiven Handelns. Auf Seite 6 stellt eine Tabelle die vielen unterschiedlichen Formen von Online-Beteiligung zusammen und zwar entlang der Kategorien und Methoden des Digital Engagement Cookbook. Beispiele aus dem In-und Ausland veranschaulichen die jeweilige Beteiligungsmethode.

Nicht nur mein Beitrag befasst sich mit den Möglichkeiten der Online-Beteiligung, sondern vier weitere des eNewsletter beleuchten das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

Noch ein paar Infos zum Netzwerk Bürgerbeteiligung: Das Netzwerk wurde 2011 auf Initiative der Stiftung Mitarbeit gegründet. Es hat zum Ziel, “der politischen Partizipation in Deutschland dauerhaft mehr Gewicht zu verleihen und sie auf allen Ebenen (Bund, Länder, Kommunen) zu stärken. Das Netzwerk fragt danach, wie eine »partizipative Demokratie« ausgestaltet und vorangebracht werden kann. Es sucht nach Wegen zur politisch-strategischen Förderung der Bürgerbeteiligung. Auf Basis dieser Grundidee führt das »Netzwerk Bürgerbeteiligung« Menschen aus allen Bereichen zusammen, die die Partizipation von Bürger/innen an politischen Entscheidungen voran bringen und die Zukunft der Bürgerbeteiligung mitgestalten wollen” (Über das Netzwerk). Jeder an Beteiligung Interessierte kann Netzwerker und Netzwerkerin werden. Bei gemeinsamen Treffen lernt man sich untereinander und unterschiedliche Beteiligungsprojekte kennen.

Ich finde es gut, dass mit dem Netzwerk der Versuch gestartet wurde, Menschen aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen zum Thema Beteiligung zusammenzubringen, Ressourcen auszutauschen und zu bündeln. Das Netzwerk lebt vom Engagement seiner Mitglieder. Als Bürger/in sollte man nicht warten, bis Beteiligung von staatlicher Seite zugestanden (und gestaltet!) wird (“Wann führt meine Gemeinde endlich einen Bürgerhaushalt ein?”), sondern es kommt darauf an, vor Ort konkrete Beteiligungsprojekte einzufordern und zu initiieren.

In den nächsten Tagen soll eine neue Plattform für das Netzwerk Bürgerbeteiligung an den Start gehen, die noch mehr Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Netzwerkern bietet. Man wird dann Beteiligungsprojekte vorstellen und gemeinsam vorantreiben können. Auch von mir gibt es eine Projektinitiative, die ich auf dem Netzwerktreffen in Köln vorgestellt habe und die online auf der neuen Kooperationsplattform weiter diskutiert und vorangebracht werden soll: “Die Förderung von Teilhabe im Sozialsektor – soziale Dienste 2.0”. Ziel meiner Projektinitiative ist es u.a.

  • Mitstreiter/innen zu finden
  • Best-Practice-Beispiele für Bürger-Teilhabe im Sozialsektor auf lokaler Ebene zu sammeln
  • Vorschläge zu erarbeiten, wie die Teilhabe von Bürgern gefördert bzw. die sozialen Dienste 2.0 aussehen könnten

Das Netzwerk Bürgerbeteiligung wird in der Anfangsphase von einer Aufbaugruppe unterstützt, bei der auch Sophie Scholz, die Gründerin der Socialbar mitmacht. Mit ihr hat die Zusammenarbeit im Rahmen des eNewsletters Freude gemacht – vielen Dank, Sophie!

 

http://www.netzwerk-buergerbeteiligung.de/fileadmin/Inhalte/PDF-Dokumente/newsletter_beitraege/beitrag_reiser_120710.pdf