Kategorie-Archiv: Staat

Der “Dritte Sektor” in Europa – Probleme und Zukunftsaussichten

Im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts “Third Sector Impact” bemühten sich Forscher aus vielen europäischen Ländern um eine Überarbeitung des Konzepts, wer alles zum “Dritten Sektor” zählt, wie groß dieser insgesamt ist und welche Wirkungen er auf allen Ebenen entfaltet. Untersucht wurden auch die Probleme, mit denen der Sektor kämpft. Hinter dem ganzen Forschungsprojekt steht der Wunsch, die Potenziale des Dritten Sektors in und für Europa sichtbarer zu machen und den Sektor stärker ins Gespräch und auf die politische Agenda zu bringen. Derzeit sind sowohl seine Sichtbarkeit als auch seine Legitimität auf europäischer Ebene nur schwach ausgeprägt,  – was von den Forschern bedauert wird.

In zwei Blogbeiträgen habe ich mich mit den Ergebnissen des TSI-Forschungsprojekts befasst, siehe hier (Teil 1) und hier (Teil 2).

Zum Verständnis: zum Dritten Sektor zählen gemeinnützige Organisationen, aber auch Sozialunternehmen und Genossenschaften sowie das Engagement  von Bürgern, – aber nur, wenn nicht-staatlich, freiwillig und öffentlichen Zwecken verpflichtet (s. Teil 1).

Mit welchen Herausforderungen sind aktuell Nonprofits und Sozialunternehmen in Europa konfrontiert? Die Forscher zählen in ihrem Abschlussbericht einige auf (Enjolras/Salamon/Sivesind/Zimmer 2016, 10f):

  1. Das freiwillige Engagement ist heutzutage zeitlich begrenzter, projektorientierter und immer weniger an eine Organisation gebunden. Die Sozialwirtschaft kann nicht mehr automatisch mit Freiwilligen rechnen, sondern muss Ressourcen investieren, um ihren Bestand an Freiwilligen zu pflegen und neue Freiwillige rekrutieren zu können. Durch den unsicheren Zugriff auf Freiwillige kommen traditionelle Organisationsmodelle ins Wanken
  2. Die finanzielle Situation der Sozialwirtschaft wurde in den letzten Jahren schwieriger. Zum einen spart die öffentliche Hand als Folge der Finanzkrise. Zum andern wurde die Finanzierung der Organisationen verändert: das Kostendeckungsprinzip wurde aufgegeben. Die Einrichtungen konkurrieren um Mittel, die der Staat oder die Nutzer selbst vergeben. Effizienz und Effektivität werden durch die “Social-Investment-Logik” immer wichtiger. Organisationen müssen erheblich in ihr Fundraising und in ihr Management bzw. ihre Leistungsfähigkeit investieren
  3. “Down by Bureaucratization” – so nennen die Forscher jenen Zwang zur Rechenschaftspflicht und zum permanenten Leistungsnachweis, dem die Organisationen immer stärker ausgesetzt sind, sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber privaten Spendern (statt “trust me” – “prove me”). Speziell der Staat hat sein Verhältnis zur Sozialwirtschaft verändert,  – die Beziehung wurde vermarktlicht: die öffentliche Hand sieht sich als Einkäufer sozialer Dienstleistungen. Die Leistungsverträge, die die öffentliche Hand vergibt, diktiert sie auch selbst
  4. Räume für gemeinnützige Projekte, z.B. im Kultur- oder Sportbereich, sind gerade in den Metropolen sehr knapp. Hier konkurrieren Nonprofits und die Sozialwirtschaft häufig erfolglos um den raren (öffentlichen) Raum, der in der Regel in den Städten mit maximalem Profit verkauft werden soll
  5. Niedrige Einkommen dominieren den Dritten Sektor. Personal wird reduziert, die Arbeitslast erhöht, Jobs werden in Teilzeit-Formate aufgesplittet, die Beschäftigungsverhältnisse insgesamt immer prekärer. Dies führt dazu, dass Personal immer schwieriger zu gewinnen ist und die Qualität der Dienste leidet

Das Fazit der Forscher: In den letzten Jahren wurde europaweit der Dritte Sektor erheblich geschwächt und damit auch seine Fähigkeit, soziale Dienste zu erbringen, Interessen zu vertreten, Gemeinschaft zu bilden und Mitmach-Möglichkeiten anzubieten.  Den Forschern zufolge gibt es für die Zukunft zwei mögliche Szenarien (S. 12):

Entweder der Sektor vermarktlicht noch mehr und hört irgendwann auf, ein eigenständiger “Dritter Sektor” neben Markt und Staat zu sein. Oder es gibt eine Renaissance des Dritten Sektors und seiner Visionen. Dies würde aber voraussetzen, dass einerseits Politik und Staat diese Renaissance wollen und unterstützen und andererseits auch die Verantwortlichen im Dritten Sektor Konzepte für diesen Weg entwickeln.

Von einer solchen Aufbruchstimmung ist hierzulande leider noch nichts zu spüren, – so ist zumindest mein Eindruck. Der Dritte Sektor ist verunsichert, fühlt sich in der Defensive und ist sehr schwach, wenn es darum geht, in der Fläche Allianzen in den zivilgesellschaftlichen Raum hinein aufzubauen, um eine Bürgerbewegung zu schaffen, die die Werte der Sozialwirtschaft teilt. Der Schulterschluss wird primär mit staatlichen Akteuren gesucht und auch hier nicht aus einer Position der Stärke heraus, sondern eher aus Gründen der finanziellen Abhängigkeit. Den Blick hin zur Bürgerschaft und in das Gemeinwesen hinein gibt es immer noch viel zu selten.

Neudefinition des “Dritten Sektors” (Teil 2): Die Rolle des freiwilligen Engagements

Wie im letzten Blogartikel beschrieben arbeiten Forscherinnen und Forscher im Rahmen eines europäischen Projekts an einer Re-Formulierung des Konzepts des sogenannten “Dritten Sektors”.

Zum “Dritten Sektor” sollen nun nicht mehr nur jene Organisationen zählen, die keine Gewinne erzielen dürfen (“Nonprofits”), sondern auch Genossenschaften, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und Sozialunternehmen, sofern sie privat verfasst und freiwillig sind, öffentliche Ziele verfolgen und u.a. nicht mehr als 50% ihrer Gewinne an ihre Stakeholder verteilen. Diese inhaltliche Erweiterung macht Sinn angesichts der weiten Verbreitung von Genossenschaften speziell im Süden Europas und der Zunahme des sozialen Unternehmertums.

Die Forscher möchten nun auch das freiwillige Engagement von Bürgerinnen und Bürgern konzeptionell dem Dritten Sektor zurechnen, da Kritiker schon lange bemängeln, dass zivilgesellschaftliche Aktivitäten von Bürgerseite bisher in dem Konzept fehlten, ebenso wie Normen und Werte. Soll nun jedes freiwillige Engagement zum “Dritten Sektor” gehören?

Salamon/Sokolowski (in VOLUNTAS, 27/4, 2016), die an dem Forschungsprojekt beteiligt sind, beginnen mit einer Definition des “freiwilligen Engagements”, die sie von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) übernehmen (S. 1538). Derzufolge ist das freiwillige Engagement

  • unbezahlt (wobei eine Aufwandsentschädigung bis zu einem gewissen Grad zulässig ist)
  • freiwillig
  • es wird im Rahmen von Organisationen oder direkt erbracht
  • die Nutznießer des Engagements gehören nicht zur eigenen Familie oder zum eigenen Haushalt

Salamon/Sokolowski grenzen sich aber in einem Punkt von der ILO-Definition ab. Ihnen zufolge kann freiwilliges Engagement, das in Organisationen geleistet wird, nur dann zum Dritten Sektor gerechnet werden, wenn es in einer Organisation erbracht wird, die ihrerseits zum Dritten Sektor bzw. zum TSE-Sektor (third sector/social ecomomy) gehört. Und staatliche/kommunale Organisationen ebenso wie for-profit-Unternehmen gehören nicht dazu. Also würde auch das folgende freiwillige Engagement nicht zum Dritten Sektor zählen:

  • das Engagement in kommunalen Einrichtungen wir bspw. im städtischen Pflegeheim oder Krankenhaus
  • das Engagement im Rahmen der staatlich geregelten oder staatlich organisierten Freiwilligendienste (FSJ, FÖJ, Internationaler Jugendfreiwilligendienst, Bundesfreiwilligendienst)
  • das Engagement im Zuge der schulischen oder universitären Ausbildung
  • das Engagement von Mitarbeitern im Rahmen der sozialen Aktivitäten von Unternehmen (corporate social responsibility)

Diese Sicht widerspricht  Ansätzen, für die der “Dritte Sektor” und die Zivilgesellschaft deckungsgleich sind, so dass alles freiwillige Engagement auch automatisch Teil des Dritten Sektors wäre (vgl. den letzten Blogartikel).

Aber tatsächlich ist die Zivilgesellschaft doch viel größer als der Dritte Sektor und kann nicht auf diesen reduziert werden. Insofern macht die Einteilung, die die Forscher vorlegen, Sinn. Auf den ersten Blick wirkt es verwirrend, wenn gemeinnütziges Engagement im Bereich des Staates oder der gewerblichen Wirtschaft nicht zum Dritten Sektor gezählt wird, der für Gemeinnützigkeit und Solidarität steht. Auf den zweiten Blick jedoch muss man sehen, dass ziviles Verhalten in jedem Sektor beheimatet sein kann, nicht nur im Dritten Sektor, sondern auch in Markt und Staat. Zivilität wird auch hier gelebt, freiwilliges Engagement gibt es auch hier – aber eben im Rahmen anderer Strukturen: nicht denen des Dritten Sektors, sondern in einem staatlichen oder marktlichen Setting.

Die beiden Autoren selbst stellen die zivilen Potenziale von Staat und Markt aber nicht heraus. Sie sind ganz auf den Dritten Sektor fixiert. Sie möchten dessen Leistungsfähigkeit, Wirkung und Bedeutung für die europäischen Gesellschaften nachweisen. Dadurch verlieren sie Überschneidungen zwischen Markt, Staat und Drittem Sektor aus den Augen. Die Autoren betonen aus statistischen Gründen eher das Trennende und nicht das Verbindende. Dadurch gerät ihnen auch einiges durcheinander. So betonen sie bspw., dass das Engagement von Minderjähringen und Bürgern mit Lernbehinderung nicht zum Dritten Sektor zählt, weil nicht sichergestellt werden kann, ob es freiwillig erfolgt. Durch diese Exklusion von Freiwilligen werden neue Gräben aufgerissen, statt alte zugemacht.

Quartiersvernetzung fördern (Teil 5) – soziale Innovationen erzielen

Dies ist der fünfte Beitrag einer kleinen, wöchentlichen Artikelserie hier im Blog zum Thema “Quartiersvernetzung”. Nach dem ersten Beitrag, warum Quartiersvernetzung wichtig ist, ging es im zweiten Blogartikel  um den Wissensaustausch unter den örtlichen Stadtteilvernetzern. Der dritte Beitrag nahm die engagierten Bürger, die als Vernetzer tätig sind, und die örtlichen Freiwilligenagenturen in den Blick. Der vierte Artikel analysierte die Rolle von Unternehmen und Stiftungen in der Quartiersvernetzung. Der nun folgende Beitrag befasst sich mit sozialen Innovationen auf lokaler Ebene und der Frage, welchen Beitrag Sozialunternehmer hier leisten können. Der Artikel in der kommenden Woche beleuchtet die Rolle der Kirchengemeinden beim Aufbau neuer sozialer Beziehungen im Viertel.

Unter einer “sozialen Innovation” versteht man nicht nur eine neue Idee,  die  einen gesellschaftliche Bedarf abdeckt. Sondern zu einer sozialen Innovation gehört, dass sie in der Umsetzungsphase auch zu neuen sozialen Praktiken und Arrangements führt, wie bspw. zum Aufbau von Netzwerken, zur Beteiligung verschiedener Akteursgruppen und zu  interaktiven Lernprozessen, so Grohs/Schneiders/Heinze in ihrem Buch  “Mission Wohlfahrtsmarkt” (2014), das die Grundlage für diesen Blogartikel bildet.

Voraussetzung für soziale Innovationen ist der Wille zur Kooperation unter den Beteiligten und der Wille zum Erfahrungsaustausch. Auch ein Quartiersbezug kann soziale Innovationen fördern, da die Vernetzung mit anderen Institutionen, mit Bürgern und der Wirtschaft im Stadtteil durch die räumliche Nähe gut gelingen kann.

Schwierig sind Innovationen im Feld der sozialen Dienste, da Vernetzungsversuche sich hier an einem extrem segmentierten Finanzierungs- und Rechtssystem reiben, das die Zusammenarbeit erschwert, obwohl gerade im Bereich sozialer Dienste eine ganzheitliche Betrachtung von Menschen und ihren Problemlagen notwendig wäre. Laut Grohs u.a. setzen sich in Deutschland neue soziale Dienste erst dann durch, wenn sie sozialstaatlich anerkannt,  verrechtlicht und damit auch refinanzierbar sind (Grohs u.a. 2014, 187).

Welche Rolle kann in einem solch eher statischen Umfeld das Sozialunternehmertum einnehmen? Kann dieses auf lokaler Ebene innovative Praktiken etablieren, die auf Kooperation und Vernetzung zielen?

Grohs u.a. zeigen, dass die Stärke der von ihnen untersuchten Sozialunternehmen nicht in der Originalität ihrer Dienstleistungsidee liegt, sondern gerade darin, dass sie Netzwerke aufbauen und interdisziplinär arbeiten (S. 170f). Zahlenmäßig spielen sie im deutschen Wohlfahrtsstaat aber nur  eine kleinere Rolle. Im Unterschied zum angelsächsischen Raum, aus dem das Modell des Social Entrepreneurship stammt, demzufolge gesellschaftliche Probleme mit unternehmerischen Methoden bearbeiten werden, sind in Deutschland die “Lücken in der Wohlfahrtslandschaft sind nicht groß genug, um ausreichende Profilierungsmöglichkeiten für Einzelpersönlichkeiten zu bieten” (Grohs u.a. 2014, 180).

Soziale Innovationen kommen übrigens keineswegs nur von den wenigen Social Entrepreneurs, sondern auch aus den etablierten Organisationen, wo es immer wieder einzelne Intrapreneure gibt, die innovative Projekte anschieben (Grohs u.a. 2014, 170).  Dennoch können Sozialunternehmen auf lokaler Ebene als “Innovationsinkubatoren” wirken, indem sie sozialräumliche Netzwerke bilden, Beteiligung fördern, Erfahrungen austauschen, Best-Practice-Beispiele sichtbar machen und in ihrer Arbeit soziale Medien einsetzen. Sie entwickeln so ein “Irritationspotential” (Grohs u.a.  2014, 180) für etablierte wohlfahrtsverbandliche Träger, von denen einige ein erhebliches Beharrungsvermögen an den Tag legen. Statt von den Sozialunternehmen innovative Praktiken zu erlernen, “ging man in den meisten Verbänden den Weg der Ausgrenzung. Diese neuen Akteure strategisch in ihrer Funktion als Innovationsinkubator zu nutzen, ist nur in Ausnahmefällen angedacht bzw. umgesetzt worden” (Grohs u.a.  2014,  193).

Grundsätzlich gibt es einige Politikfelder, die als “Innovationsarenen” (Grohs u.a. 2014 , 186) gelten, nämlich u.a. der demographische Wandel, die Integration von Migranten, die veränderten Familienstrukturen, die soziale Stadtentwicklung. Hier kommen die Kommunen allein nicht weiter, sondern sind auf  die Beteiligung von Bürgern, Gemeinnützigen und der Wirtschaft angewiesen. Alle diese Politikfelder sind speziell auf der Quartiersebene von Bedeutung: hier sind die sozialen Probleme direkt erfahrbar und fordern zu sozialen Innovationen wie der Netzwerkbildung auf. Grohs/Schneiders/Heinze sind optimistisch und rechnen damit, dass soziale Innovationen, die auf lokaler Ebene entwickelt werden, langfristig in die etablierten Strukturen eingehen, so dass sich in diesem Fall das Engagement von Social Intra- und Entrepreneuren gelohnt haben dürfte (S. 194).