Verbandlichen Trägern im Sozialsektor fehlt ein Leitbild für das 21. Jahrhundert. Allein die Erbringung sozialer Dienste kann kein Leitbild sein, denn diese Leistungen werden auch von gewerblichen Einrichtungen angeboten. Ebenso kommt das Spezifische eines jeden gemeinnützigen Akteurs – das Katholische oder Evangelische oder in einem anderen Milieu Ankernde – im Alltag sozialer Dienste häufig nicht mehr zum Tragen, weil die Leistungserbringung sich unter den Einrichtungen immer mehr angleicht, auch infolge staatlicher Regulierungen und Vereinbarungen.
Wohin also den Blick richten? Was könnte zu einer Renaissance der wohlfahrtsverbandlichen Arbeit führen? Was könnte die gemeinnützigen Anbieter aus ihrer Dienstleistungs-Sackgasse befreien und ihnen neue Perspektiven eröffnen und Unterstützer bescheren?
Mehr Partizipation im Dritten Sektor ist meines Erachtens der Ausweg. Wir brauchen eine demokratische Governance in den Einrichtungen, die Bürgerbeteiligung wertschätzt, die Teilhabe fördert und die aus Stakeholdern (Klienten, Angehörigen, Freiwilligen….) Bürger macht.
Nur eine stärkere Vernetzung mit der Zivilgesellschaft in all ihren Facetten, also auch über Milieu- und Sektorgrenzen hinweg, kann Nonprofits die Ressourcen verschaffen, die sie zum Überleben brauchen: mehr Wissen, mehr Innovationen, mehr Engagement, mehr Mittel und mehr politische Unterstützung von Bürgerseite.
Wer Bürger nicht auf Augenhöhe wahrnimmt, wird nie die vielfältigen Mittel akquirieren können, die eine Einrichtung für ihren Erfolg und ihr Überleben braucht. Wer nur darüber lamentiert, dass Freiwillige schwer zu finden sind, aber es versäumt, auf bestehende Initativen, Vereine und Gruppen in der Gemeinde zuzugehen und nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu suchen, braucht sich über mangelnden Zulauf nicht zu wundern. Bürgerbeteiligung gibt es nicht voraussetzungslos, sondern sie braucht einen zivilgesellschaftlichen Nährboden, der durch Vernetzung und Kooperation gekennzeichnet ist.
Eine gemeinnützige Organisation, die sich als demokratischer Akteur begreift,
- beschränkt sich nicht auf ihre Dienstleistungsfunktion, sondern will das Gemeinwesen mitgestalten
- schafft dezentrale Organisations- und Entscheidungsstrukturen
- begegnet Bürgern auf Augenhöhe
- bietet Bürgern ein breites Portfolio an Beteiligungsmöglichkeiten
- fördert die Beteiligungskompetenzen von Bürgern
- fördert die kooperativen Kompetenzen in der eigenen Organisation
- bildet Netzwerke über Grenzen hinweg
- vertritt aktiv Interessen als Folge des eigenen Gestaltungsanspruches
Für einen Workshop auf dem MorgenLand-Festival in Schaan, das – organisiert von jungen Menschen – nach einer Perspektive für die Gesellschaft des Alpenrheintals von morgen sucht, habe ich meine Thesen noch stärker ausgearbeitet. Und um die Möglichkeiten ergänzt, die Social Media gemeinnützigen Organisationen bieten können, wenn es um das Thema Bürgerbeteiligung geht.
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Es gibt auf kommunaler Ebene immer wieder gemeinnützige Projekte auch größerer Träger, die zeigen, wie Bürger von Beginn an inhaltlich in den Aufbau und die Umsetzung sozialer Dienste involviert werden können. Es wäre wichtig, diese Projekte zu sammeln und ihre Bedingungen und Steuerungsstrukturen auszuwerten, um Kriterien herauszufiltern, die in eine demokratische Governance des Verbandes eingebracht werden können. Ich freue mich über die Nennung von Beispielen in den Kommentaren.
Die Förderung von Partizipation im Rahmen demokratischer Steuerungsstrukturen in den Verbänden gilt nicht nur nach außen, sondern auch nach innen hin. Programme und Richtlinien, wie bspw. die Social Media Policy eines Verbandes, mit der sich die aktuelle NPO-Blogparade inhaltlich befasst, sollten sowohl mit dem eignen Personal als auch mit den Zielgruppen kooperativ erarbeitet werden. Gerade Social Media Policies stecken den Grundrahmen des Online-Dialogs zwischen der Organisation und ihrer Umwelt ab und sollten insofern nicht unter Ausschluss der Zielgruppen erarbeitet werden. Das Österreichische Rote Kreuz macht vor, wie bei diesem Thema die Einbeziehung der Zielgruppen in die Politikformulierung gelingen kann.
Zuletzt möchte ich nochmals betonen, dass die demokratische Governance im Dritten Sektor nicht als Selbstzweck gedacht ist, der um sich selber kreist, sondern als Möglichkeit, Ressourcen – speziell das Bürgerwissen – zu gewinnen, um Dinge verändern zu können. Ziel ist, “to change the world through collective action, not only to devise and decide, but to do.” ( Briggs 2008, 8)
Das Angebot von unzähligen sozialen Dienstleistungen, die in den meisten Fällen wirtschaftlich nicht nachhaötig sind, resultiert aus den immer weiter gekürzten Leistungsverträgen. Es ist ein (oftmals verzweifelter) Versuch, den Eigenmittelanteil zu erhöhen. Dabei geraten die Anbieter immer wieder in das Dilemma aus wirtschaftlichem Preis einer Dienstleistung und Kaufkraft der Kunden, bzw. Bereitschaft Geld für soziale Dienstleistungen auszugeben.
Bezogen auf das Beispiel Bielefeld werden die meisten sozialen Dienstleistungen über die Stadtteilbegegnungszentren angeboten. Diese Zentren arbeiten mit Leistungsverträgen, die im Bereich der Sachmittel auf dem Stand von 1979(!) basieren und im Bereich der Personalkosten auf den Stand von 2009 eingefroren sind. Für die praktische Arbeite bedeutet das, dass ein Stadtteilbegegnungszentrum oftmals von einer halben Sozialarbeiterstelle geführt wird. Die etwa vier Arbeitsstunden pro Tag werden aber auch benötigt, um für die Gruppen Kaffee zu kochen und anschließend das Geschirr zu spülen, oder auch mal, um die Toiletten zu reinigen. Effektiv bleibt also kaum Zeit, sich kontinuierlich um die eigentlichen sozialarbeiterischen Aufgaben zu kümmern.
Das neue Rahmenkonzept der offenen Altenhilfe sieht hier eine Stellenaufstockung vor – meines Erachtens wären zwei halbe Stellen mit einem maßvollen Blick auf die Finanzen sinnvoll. Die dazu benötigten 600.000Â jährlich sieht der Haushalt aber nicht vor.
Im Rahmen der Vernetzung haben viele Träger bereits erkannt, dass nur eine Zusammenarbeit – unabhängig vom Leitbild – sinnvoll ist. Auch die Zusammenarbeit mit freiwillig Engagierten auf Augenhöhe wird immer öfter umgesetzt. Allerdings bedarf es wenigstens einer mittelfristigen Planungssicherheit mit einer minimalen Personalausstattung, um die von dir geforderte Umstrukturierung und Neuausrichtung zu erreichen.
Hier ist die Kommune als Leistungsträger gefordert. Das Argument seitens der Kommune, dass es sich hier um freiwillige Leistungen handelt, lasse ich im Hinblick auf die demografische Entwicklung nicht gelten.
Gerade bei den großen Trägern ist ein Umdenken hinsichtlich des Leitbildes bestimmt angesagt, da diese mittlerweile zu weit von ihren Mitgliedern entfernt sind. Aber selbst dort, wo kleine Vereine und Verbände sehr nah mit ihren Mitgliedern zusammen arbeiten, braucht es ein Mindestmaß an Planungssicherheit, um Angebote nachhaltig und stabil etablieren zu können.
Diese Planungssicherheit kann im Augenblick nur die Politik durch finanzielle Mittel sicherstellen, auch wenn mir die prekäre Haushaltslage vieler Kommunen dabei bewusst ist.
Ich stimme Dir völlig zu – ohne Geld geht gar nichts und der Rückzug des Staates oder der Kommune aus seiner/ihrer Verantwortung darf nicht toleriert werden.
Die notwendigen Gelder müssen zukünftig aber anders eingesetzt werden – weniger für das “was” – also für die Dienstleistung selbst und dafür mehr für das “wie” – also für die Art und Weise, in welcher Akteurskonstellation/in welcher Form der Koproduktion die Dienstleistung erbracht wird. Welchen Anteil haben Bürger daran und welchen die Profession? Welche Kompetenzen sind auf beiden Seiten notwendig und müssen gefördert werden, um erfolgreich ko-produzieren zu können? Welche Maßnahmen sind im Vorfeld der Dienste zu ergreifen, damit Bürger sich beteiligen und lokale Engagement-Netzwerke wachsen können?
Für die Förderung von Koproduktions- und Beteiligungskompetenzen auf lokaler Ebene braucht es Geld und Personal, – und nicht zu knapp. Aber dies wäre eine Investition, die Früchte tragen würde. Alles andere – Sparen ohne Konzept, Abwälzung öffentlicher Aufgaben auf Bürger, Ausdifferenzierung der Leistungen durch die Träger um den Anteil an Eigenmittel zu erhöhen – schafft keinen Mehrwert für die Gesellschaft und hat keine wirkliche Zukunft.
Wenn sich die Sozialarbeiter dann – ausgestattet mit ausreichenden finanziellen und zeitlichen Ressourcen – um die Förderung von Koproduktions- und Beteiligungskompetenzen kümmern können, brauchen die Wohlfahrtsverbände auch nicht mehr dieses hohe Maß an Energie in soziale Dienstleistungen zu investieren, um Pseudo-Gewinne zu erwirtschaften.
Diese Aufgabe könnten sie dann den Social-Business-Unternehmen überlassen, die diese Dienstleistungen effektiver und wirtschaftlicher anbieten können.
Damit würden wir noch einmal an unsere Diskussion von Anfang des Jahres anknüpfen, ob Social-Business-Unternehmen die traditionellen Wohlfahrtsverbände irgendwann ablösen.
Mit dem heute diskutierten Ansatz würden sich Social-Business-Unternehmen und traditionelle Wohlfahrtsverbände im Sinne der aktiven Bürgergesellschaft optimal vernetzen und jeder seine Stärken einbringen können.
Ich finde den Anspruch von Brigitte äusserst interessant und auch die beiden Kommentare, denn ich bin “auf meine Art” auf sozialen Netzwerken seit langem dabei das Wissen in den Köpfen um Eigenverantwortung und Initiative zu stimulieren. Möchte aber darauf hinweisen, besonders bei Stefans Komm., dass die Wortführung hier so anspruchsvoll ist, dass man kaum die Klienteel zur Beteiligung an solchen Diskussionen erreicht, die man wirklich erreichen will. Allein der Hinweis auf “nicht-Selbstzweck / demokratische Governance” oder “speziell Bürgerwissen” verschreckt so Viele schon und dann halte ich es für notwendig, sich mit eurem Wissen und euren Ansprüchen, dass man euch mit Kommentaren auf ganz gewöhnlichen Netzwerken antrifft.
Insgesamt gesehen ist euer Anspruch und Ausspruch hier eine wissenschaftliche Evaluation, aber die muss in die machbaren Wege durch empirische Erfahrung/Arbeit, durch Stimulation eingehen.
(Ich kam zu euch wie die berühmte Jungfrau zum Kind> ich trachte nach einem Weg, mein Projekt, das ganz profan ist, in eine Kulisse zu verwandeln, die auch einen arbeitsfördernden Aspekt und eine nutzbringende verbindende Qualität annimmt und stosse dabei immer wieder auf die auch hier genannten Schranken des “politischen Gesellschaftsabbaus”, nämlich die Schwierigkeiten des Geld”erwerbs”.
@Sigrid Itter Dieses ist zwar ein Fachweblog, aber ich bemühe mich, so zu schreiben, dass auch Fachfremde/Praktiker usw. an die Diskussion andocken können. Da ich für ein neues Leitbild in Nonprofits eintrete, bin ich sehr daran interessiert, dass meine Texte Widerhall auf der lokalen Ebene finden. Wir (Stefan Zollondz und ich) sind in weiteren Netzwerken vertreten, u.a. auf Twitter und Xing, wo man sich mit uns vernetzen kann.